Der Grenzgürtel
Aus den Aufzeichnungen Olcurs des Reisenden
„Vom Grenzgürtel will ich berichten, der sich wie eine Kette aus edlen Steinen vom kältesten Norden bis weit über den tropischen Mittag erstreckt. Doch nicht Gemmen zieren diese Kette, sondern Hunderte und Tausende Eilande, jede funkelnd und wertvoll und voller Entdeckungen. Manche mögen kaum den Namen Insel verdienen und sind nicht viel mehr sein als ein grasiger Felsen, der nur den Vögeln als Heimstätte dient, andere sind grosse Länder und bedeckt von weiten Ebenen, tiefen Wäldern und majestätischen Bergen. Manche drängen sich zu belebten Archipelen zusammen, manche sind einsam und abgelegen und ungestört. Alle aber sind einzigartig, und jede ist es wert, mit ihr zu verweilen und ihren Charakter zu entdecken.
Wir, die wir im lichten Glanze der Valerischen Kulturen aufgewachsen sind, neigen dazu, die Bewohner jener Inseln als dumpfe Hinterwälder, rebellische Eigenbrötler und fehlgeleitete Kultisten zu sehen. Man mag dies und mehr im Grenzgürtel finden, doch ebenso unternehmungslustige Entdecker, rechtschaffene Pioniere und weise Priester. Die Vielgesalt iher Bewohner ist so gross wie jene der Inseln selbst, und ohne Vorurteil soll mein Bericht über sie sein. Wer unter jenen Menschen wandelt mit offenem Geist, den muss immer wieder in bewunderndes Staunen versetzen, mit welcher Ausdauer und welchem Einfallsreichtum sie sich unter seltsamsten Bedingungen ein Leben geschaffen haben, das diese Bezeichnung verdient.
Auch über die Bedeutung des Namens „Grenzgürtel“ geben wir uns an der Valerischen See gerne einem Irrglauben hin: Heute mag dieses Gebiet in der Tat die Grenze des Einflusses des Imperiums bilden, doch die Bezeichnung dafür leitet sich nicht aus unserer jungen Geschichte her. Der Name ist alt, und er ward nicht in menschlicher Zunge geprägt: Einst markierte diese Inselkette die Grenze zwischen den Sphären der Elfen im Westen und der Zwerge im Osten. Erstere besiedelten so manche Insel und erbauten mächtige Städte, während Letztere einige Aussenposten unterhielten und Rohstoffe abbauten. Und in diesem Streifen fochten die beiden grossen Reichen der Mittleren Zeit auch ihren bitteren Krieg aus, der Jahrhunderte andauerte und endlich den Untergang der Strahlenden Städte brachte.
Wir können nur rätseln, was den abrupten Fall der Elfen auslöste, doch seine Folgen sind uns offenkundig. Die Macht der einstigen Herren des Grenzgürtels brach schnell, ihre Städte warden innert kurzer Jahre verlassen, und die Kräfte von Barbarei und Anarchie, welche sie zurückgedrängt, ergossen sich erneut über alle Inseln. Aus den dunklen Herzen der wildesten Eilande kamen Orks hervor, von ihren grausamen Küsten segelten Piraten aller Völker, und eine finstere Strömung trug die verderblichen Totenschiffe von Cryx herbei. Es war in dieser Zeit, dass auch die Valerische See grossen Aufruhr sah, als die Allianz des Abduramas brannte und sich aus ihrer Asche das Imperium des Carvallus erhob. Die gewaltsame Umwälzung in der Heimat der Menschheit leitete aber eine neue Siedlungswelle im Grenzgürtel ein; Krieg und Entwurzelung trieben Flüchtlinge aus Valerien übers Meer auf der Suche Frieden und Heim, und die gewaltsame Unterwerfung der äusseren Provinzen führten rebellische Geister auf der Suche nach Freiheit hierher. Im Chaos des valerischen Umbruchs ward die Saat gelegt, aus der eine neue Ordnung im Grenzgürtel wachsen mag, noch jung und zerbrechlich, doch voller Versprechung.
Die erste Generation von Siedlern fand fruchtbare Felder voller Überreste der Elfen, aber auch von Ork und Ungetüm verseuchte Wildnis. Alte Städte erblühten mit neuem Leben, und Lichtungen warden geschlagen in die finsterste Anarchie.
Die zweite Generation erkundete neue Eilande und dehnte das Gebiet der Menschheit aus. An einst leeren Gestaden wuchsen neue Gemeinschaften, und die Finsternis ward weiter zurückgedrängt.
Die dritte Generation machte sich daran, zu ernten, was ihre Ahnen und Vorgänger gesät, die einsamsten Eilande zu erkunden und mit neuen Siedlungen und altem Fleiss Wohlstand und Frieden allüberall zu mehren.Ein hehres Unterfangen, doch mussten die Siedlungen nun erkennen, dass manche ihrer Wurzeln von Fäulnis befallen waren.
Unabhängig hatten die Gemeinschaften auf den Inseln sich entfaltet und so manche wunderbare Blüte getrieben, doch gediehen in diesem freien Wachstum auch verderbliche Früchte, manche im Verborgenen, manche offenbar. In einigen Siedlungen begingen infernalische Kulte ihre blasphemische Riten, andere fielen unter die mentalistische Tyrannei, und in wieder anderen spotteten Nekromanten offen wider Tod und Leben. Als das Imperium sein Augenmerk auf die Menschen des Grenzgürtels richtete, war ein Konflikt mit diesen verdorbenen Frevlern unausweichlich.
Auf den valerischen Inseln wird es oft als Beweis für die barbarische Verderbtheit der Menschen des Grenzgürtels gesehen, dass sie sich an die Seite der Nekrokraten von Golotha wider die Rechtschaffenheit des Imperiums stellten. Ich aber sage, dass dies ein Irrglaube ist: Die Menschen des Grenzgürtels, drei Generationen ihre eigenen Meister und keiner Krone gebeugt, mussten in der Ankuft des Imperiums nicht nur das Kommen von Kultur und Recht, sondern ein dräuendes Joch sehen. Und freilich, die Boten des Imperiums bestärkten sie in dieser Sicht! Wer Augen hat zum Sehen und Willen zum Denken, der kann nicht leugnen, dass viele der imperialen Potentaten im Grenzgürtel eher von kleinlicher Machtgier und despotischem Eigennutz getrieben warden und noch werden denn vom Wohle aller Menschen. Wer sein ganzes Leben ohne Herr lebte, der wäre ein Narr, sich nun einen solchen ausgerechnet unter jenen Tyrannen zu suchen.
Warum aber unterstützten die Menschen des Grenzgürtels dann die Nekromanten von Golotha? Dies ist eine falsche Frage, und sie verleitet zu einer falschen Antwort. Nicht den Nekromanten galt diese Unterstützung, sondern der freien Stadt Golotha. Nicht mit Totenbeschwörern wollten die Föderierten sich verbunden, sondern mit unabhängigen Siedlern, welche sie wie sich selbst von der Ausdehnung des Imperiums bedroht sahen.
Die richtige Frage müsste sein: Warum duldeten die Menschen des Grenzgürtels das Treiben der Nekrokraten, und auch jenes anderer Schwarzfrevler? Die Antwort ist darin zu finden, dass diese Menschen keinen Herrn kannten und deshalb auch niemandem Herr sein wollten. Sie gestanden einem jedem nur zu, was sie sich selbst nahmen. Sie müssen sich allerdings den Vorwurf gefallen lassen, zwar nicht durch eigen Verderbtheit, aber durch Untätigkeit wider Welt und Götter gesündigt zu haben.
Letztliche kostete der Siedler Unwillen, anderer Freiheit zu beschneiden, sie ihre eigene Freiheit. Nach der Niederlage bei Eschaton fielen alle menschlichen Siedlungen auf den Inseln unter des Imperiums Hoheit. Noch immer herrschen aber in weiten Gebieten des mächtigen Grenzgürtels Dunkelheit und Anarchie, finden sich auf mehr Inseln Orks und Piraten als friedfertige Menschen, Elfen oder Zwerge. Es ist noch viel zu tun, soll die Blume von Friede und Wohlstand auf allen Eilanden blühen, und es gilt Sorge zu tragen, dass ihrer Wurzel nicht das lebensnotwendige Wasser der Freiheit entzogen wird.
Von meinen Reisen in diesem Meerstrich also will ich berichten, von seinen Eilanden und ihren Bewohnern, von seinen Wundern und Schätzen, aber auch von seinen Schrecken und Gefahren. Und tun will ich dies mit offenem Geist, sehendem Blicke und ungetrübter Aufrichtigkeit.“