„Vermutlich wäre Tallae eine verehrungswürdige Göttin, wenn nur ihr arrogantes Priesterpack einem nicht dauernd sagen würde, was man alles falsch mache.“
- Zugeschrieben dem zwergischen Priester Luggwosch
“Beginnest du die Tallaquest, so gehe in die Welt und suche Perfektion. Dreifach muss deine Tugend sein: Das Schwert sollst du gemeistert haben, tapfer und stark du sein; aber das Schwert sollest du nicht Herrn nennen, Frieden und Ausgleich dich leiten. Kundig in den Lehren sollest du sein, klug und belesen; doch die Kunde solle dich nicht gefesselt haben, Offenheit und Entdeckung dir Freude sein. Aufs Edle solle deine Gesinnung gehen, rein und gut dein Trachten sein; doch das Edle solle nicht dein Auge blenden, Klarsicht und Weltwissen dir dienen.
Perfektion wirst du nie erreichen, doch Streben ist edel und gut. Wenn vor der Göttin wahrem Blick du bestehen kannst, wenn Tugend dein Sein und Besserung dein Werden, dann wirst du finden den Letzten Weg nach Tallabor, dann wird der höchste Lohn dein sein: Weilen in der Himmelsröte Gegenwart und Lernen von der erhabensten Lehrerin.“
- 'Von der Tallaqueste' in der Einfachen Wahrheit
Tallae ist die Göttin der Gelehrsamkeit und des Kampfes und vor allem des Strebens nach Perfektion. Sie ist die Edle Streberin, die Wachende Himmelsröte, das Locken der Erkenntnis, der Schild der Gerechtigkeit. Sie deckt den Rücken des Herrn Morenu und zählt zu den Sieben Getreuen. Wahrhaftigkeit, Mut und Erkenntnis sind Tallaes Gefolge. Sie ist die Tochter von Epsis und Morenu, die Gattin Ignuls, die Mutter der Mechanika und eine der Götter des Tritheons.
Als eheliche Tochter der Königin Epsis und des Herrn Morenu war Tallae von Geburt an ein Platz unter den Göttern des Tritheons bestimmt. Mit fünf Jahren übte sie sich in Schwertkampf und Mathematik, in Kunst und Philosophie, in Ethik und Astronomie. Mit acht Jahren erfand sie die Strategie, mit elf übertraf sie all ihre Lehrmeister ausser ihren Eltern. An dem Tag, da sie die kluge Königin Epsis etwas Neues lehrte und den unbesiegten Herrn Morenu mit ihrem Übungsschwert berührte, da ward sie für volljährig erklärt. Es war ihre Wahl, ob sie sich unter die Götter des Diesseits oder des Jenseits gesellen wolle. Tallae wählte das Diesseits, und seit jenem Tage zählt sie zum Gefolge des Herrn Morenu. Tallae führte während der Tage ohne Mond und Sonne die Heerscharen der Götter. Sie kämpfte nicht in der ersten Reihe, doch ihrer klugen Strategie ist es zu verdanken, dass die schwarzen Mauern Orokuls schliesslich erstürmt wurden.
Die Tochter von Mond und Sonne steht als Morgen- und Abendröte am Himmel. Wenn der Herr Morenu am Morgen in den Himmel hinauf oder am Abend daraus herunter steigt, dann lauern seine Feinde in der Dunkelheit hinter oder vor ihm. In diesen Stunden steht Tallae ihrem Vater bei, um ihn vor allen Hinterhalten durch Titanen und Dämonen zu schützen. Ihr Mantel umweht dann die Sonne und steht rot am Himmel. Als Morgenrot verabschiedet Tallae den Herrn Morenu vor seinem täglichen Gang, als Abendröte empfängt sie ihn danach.
Von ihrer Feste Tallabor wacht Tallae über den Rand der Schöpfung. Die glitzernden Türme von Tallabor erheben sich an der Grenze zwischen Tag und Nacht hoch in den Himmel und werden vom Gefolge der Göttin bemannt. Aus den tapfersten und reinsten Rittern besteht dieses Gefolge und aus Löwen und Greifen. Dämonen von Ausserhalb berennen immer wieder die Tore Tallabors, um Einlass zu gewinnen in die Schöpfung, doch werden sie stets von Tallae und ihren Getreuen zurückgeschlagen.
Tallae schätzt alle Sterblichen, die nach Meisterschaft in irgendeiner Kunst streben oder diese schon erlangt haben. Am meisten aber liebt sie Sterbliche, die sich durch Aufrichtigkeit, Edelmut und Güte auszeichnen. Es heisst, Tallae helfe den Sterblichen bereitwillig, doch immer nur, damit sie ihre Fertigkeiten selbst verbessern können. Jeder Sterbliche, der nach Tallabor kommt, erhält einen Platz unter Tallaes Gefolge. Hier kann er bleiben ohne zu altern und von Tallae selbst und den besten Lehrmeistern in allen Künsten unterwiesen werden. Doch der Weg nach Tallabor, die Tallaqueste, ist schwierig und voller Prüfungen, und nur jene, die tapfer, klug und von reinem Herzen sind, können ihn begehen.
Tallae strebt unermüdlich nach Perfektion. Sie war von Geburt an mit grossen Talenten gesegnet und hat alle Künste von Körper, Geist und Seele gemeistert. Dennoch arbeitet sie unermüdlich daran, ihr Können weiter zu verbessern. Selbst ihr ist wahre Perfektion verwehrt, doch gerade darin liegt das Edle ihres Strebens. Sie ist ausgeglichen, gerecht und barmherzig zugleich, und ihre Treue, Ehre und hohe Gesinnung werden von niemandem übertroffen. Doch kann sie auch hochmütig sein und voller Verachtung für jene, die ihren hohen Ansprüchen nicht genügen.
Ignul ist der Gatte Tallaes, doch heiratete die Edle Streberin den missgestalteten Gott des Feuers und der Schmiede nur widerwillig auf Geheiss des Herrn Morenu. Wenn sie auch Ignuls Kunstfertigkeit hoch schätzt, so verabscheut Tallae doch die Plumpheit seines Körper und seines Geistes. Die Tochter von Tallae und Ignul, von Gelehrsamkeit und Handwerk, ist die Göttin Mechanika.
Die bekannteste Darstellung Tallaes ist die berühmte, ungeheuer lebendig wirkende Statue aus weissem Marmor in Trieston. Sie zeigt eine wunderschöne Frau mit langen Haaren in antiker Rüstung, in der Rechten ein Schwert, in der Linken ein Buch. Ein grosser Schild lehnt an ihrem linken Bein und ein weiter Umhang liebt über ihren Schultern. Der rechte grosse Zeh dieser Statue dient übrigens als Norm für die valerischen Masseinheiten. Neben dieser klassischen Darstellung gibt es unzählige andere, die Tallae häufig als Kriegerin in der Ausrüstung ihrer jeweiligen Zeit zeigen. Kürzlich sorgte ein Bild in Esculien für einige Aufregung, da auf ihm Tallae eine Pistole im Gürtel trägt. Immer aber ist Tallae jung und schön, und immer trägt sie ihre Insignien: das Kundbuch von Arasendel, den Schild Immerschutz, das Erste Schwert und vor allem den roten Umhang von Morgen und Abend.
Die heiligen Tiere Tallaes sind der tapfere Löwe, der kluge Storch und der edle Schwan. Auch Thymian und Lorbeer sind der Edlen Streberin geweiht.
Der Kult der Tallae
Die Kirche der Tallae zählt recht wenige Gläubige, verfügt aber über grossen Einfluss. Dies liegt daran, dass sich unter den Gläubigen vor allem Adlige, Gelehrte und Offiziere finden, und dass die Priester sich äusserst aktiv in Politik, Bildung und Krieg einbringen. Es lässt sich dabei nicht bestreiten, dass die Kirche Tallaes das Beste für alle Menschen als Ziel hat; andererseits halten viele Menschen die Tallaepriester für hochmütige Moralapostel, die ihnen vorschreiben wollen, was dieses Beste denn sei. Tatsächlich tun die Tallaepriester viel für Schutz, Seelenheil und Bildung aller Menschen, doch sie verteilen nur in seltenen Fällen Almosen und verlangen von jedem tugendhafte Lebensführung. Das Kernland der Kirche sind seit jeher die inneren Provinzen Valeriens, vor allem Tirensis. Im Grenzgürtel findet man nur in Melweth einen Tempel der Tallae, kann aber überall ihren Anhängern oder wandernden Priestern begegnen.
Die Weihe zum Priester Tallaes erfolgt in zwei Stufen, zuerst zum Novizen, dann zum Adepten. Vor beiden Weihen muss der Anwärter angemessene Fähigkeiten in den hohen Künsten ebenso beweisen wie grosse moralische Integrität. Die meisten Adepten leben in einem Tempel, doch einige sind ebenso wie die Novizen auf Wanderschaft, studieren an einer Akademie oder dienen in einer Legion. Alle Priester, ob Novize oder Adept, wählen den oder die Princeps, das Oberhaupt der Kirche. Dessen Amtszeit dauert maximal sieben Jahre, dann muss es zurücktreten. Die anderen vier Primarchen der Kirche werden jeweils vom Princeps für fünf Jahre ernannt.
Männer wie Frauen können gleichermassen die Priesterweihe erhalten. Viele Priester begannen ihre Laufbahn in einer der vielen Schulen der Kirche. In ihnen findet man jüngere Kinder von Adligen ebenso wie talentierte Waisen oder Kinder armer Eltern, die von einem Tallaepriester entdeckt und gefördert wurden. Es gibt aber auch viele erfahrene Scholaren und Soldaten, die später im Leben Tallaes Weihe empfangen. Alle Priester verfügen über eine hervorragende Bildung und sind zumindest fähige Schwertkämpfer; sie arbeiten stetig weiter an ihren Fertigkeiten.
Jeden Morgen halten die Tallaepriester die Andacht des Körpers, ein halbstündige Schwertkampfübung mit streng festgelegten Bewegungsabläufen. Am Abend findet die ebenfalls halbstündige Andacht des Geistes statt, bei dem über eine Stelle aus der Einfachen Wahrheit oder aus dem Werk eines grossen Gelehrten diskutiert oder nachgedacht wird. Zudem finden alle paar Tage zweistündige Tallaedienste statt, komplexe Rituale, die der Stärkung des Charakters und der Moral dienen. Der Zeitpunkt des nächsten Tallaedienstes wird anhand astronomischer Beobachtungen, mathematischer Gesetze und Zitaten aus der Einfachen Wahrheit festgelegt. Jeder Gläubige muss diese anspruchsvolle Aufgabe selbst lösen; einem erfahrenen Priester gelingt dies in etwa einer Stunde konzentrierter Arbeit. Für Priester ist es eine grosse Schande, einen Tallaedienst falsch zu bestimmen. Zu den Andachten und Tallaediensten tragen die Novizen eine einfache weisse Tunika mit rotem Saum und die Adepten zusätzlich einen roten Umhang. Zu anderen Zeiten erkennt man die Diener Tallaes an einem roten Band, dass sie am Schildarm tragen.
Tempel der Tallae sind immer teils Schule, teils Waffenplatz und teils heilige Hallen. Jeder einzelne ist ein einzigartiges architektonisches Meisterwerk, geschmückt mit wundervollen Kunstwerken. Dabei bestechen die Tempel niemals durch materiellen Prunk, sondern durch Kreativität, Harmonie und hervorragende Ausarbeitung. Das Herz jedes Tempels ist ein kleiner Schrein, den nur Priester und rituell gereinigte Gläubige betreten dürfen. Hier brennt mit rötlicher Flamme eine Lampe, gespeist von einer geweihten Alchimicalia, entzündet an der Ewigen Kerze in Trieston, einem Geschenk Tallaes an Abduramas den Weisen. Solange die Lampe nie erlischt, solange stehen der Tempel und alle, die in ihm Zuflucht suchen, unter dem erklärten Schutz der Wachenden Himmelsröte.
Zu jeder Zeit ist eine grosse Zahl von Tallaepriestern, darunter momentan auch die Princeps Illandra Feuerwort und ein weiterer Primarch, auf Wanderschaft: Sie bereisen die Welt, um ihr Wissen zu erweitern, neue Entdeckungen zu machen und Gutes zu tun. Die Wanderschaft der meisten Priester dauert einige Jahre, doch einige widmen ihr das ganze Leben und begeben sich auf die Tallaqueste, die Suche nach der mystischen Festung Tallabor. Auch ungeweihte Gläubige machen sich gelegentlich auf die Tallaqueste. Es heisst, ein derart Suchender müsse der Perfektion von Körper, Geist und Seele so nahe kommen, dass er in Tallaes Gegenwart bestehen kann, und dabei sieben grosse Prüfungen bestehen; dann, und nur dann, öffnet sich ihm der Letzte Weg, der ihn an den Rand der Schöpfung und zu seinem Ziel bringt. In Tallabor erwartet den Suchenden ewiges Leben und fortdauerndes Lernen, aber auch endlose Wacht wider die Dämonen von Ausserhalb. Es lässt sich schwer abschätzen, wie viele der Suchenden auf der Tallaqueste ihr Ziel wirklich finden, doch dürfte es eine kleine Minderheit sein. Einige jener, die Tallabor tatsächlich gefunden haben, kehren manchmal für kurze Zeit unter die Sterblichen zurück, um ihnen mit Rat, Warnung und Lehre beizustehen. Arwelin von der Schöpfung etwa war die vielleicht grösste Dämonenjägerin der Geschichte; sie machte sich vor über 200 Jahren auf die Tallaqueste. Bis heute gibt es immer wieder Berichte, dass sie Menschen vor einer dämonischen Gefahr warnte und ihnen zeigte, wie diese Gefahr gebannt werden kann.
Die Grundlage des Tallaekultes ist die Einfache Wahrheit. Dieses Buch enthält nicht nur genaue Vorgaben für alle rituellen Handlungen und für ein tallaegefälliges Leben, sondern auch die Grundlagen aller anerkannten Künste. Nur ein kleiner Teil ist den Sagen über Tallae gewidmet. Die Primarchen und interessierte Adepten treffen sich alle drei Jahre, um die Einfache Wahrheit zu überarbeiten, zu klarifizieren, zu ergänzen und zu streichen. Wie die Anhänger Tallaes strebt ihre heilige Schrift so fortwährend der Vollendung entgegen. Viele Anhänger Tallaes liegen deshalb in beständigem Streit mit Priestern anderer Götter des Tritheons: Die Tallaepriester erheben dan Anspruch, dass die Sagen über Tallae so gesichert als möglich und vor allem widerspruchsfrei sein sollen. Allerdings wimmelt es in den Überlieferungen des Tritheons nur so von Absonderlichkeiten und offenen Widersprüchen, und viele betreffen auch Tallae. Anhänger anderer Götter, vor allem orthodoxe Morenupriester, weigern sich aber entschieden, ihre Sagen auszumisten.
Für die Kirche der Tallae ist ein Widerspruch besonders störend: Tallae ist die eheliche Tocher von Epsis und Moren; Epsis und Morenu heirateten nach den Tagen ohne Mond und Sonne; Tallae kämpfte bei den Tagen ohne Mond und Sonne. Eine dieser drei Überlieferungen müsste getilgt werden, um den Widerspruch zu lösen. Die Anhänger Tallaes vertreten zum Grossteil die Auffassung, die Heirat von Epsis und Morenu müsse mindestens acht Jahre und neun Monate vor den Tagen ohne Mond und Sonne stattgefunden haben. Dies steht aber in heftigem Widerspruch zu den Lehren der Epsis, und einige Anhänger Tallaes liegen darob in einem bösen theologischen Streit mit den Scriptae des Epsiskultes. Doch gibt es auch im Tallaekult Stimmen, die darauf hinweisen, dass es mehr Sinn machen würde, die Beteiligung Tallaes an den Tagen ohne Mond und Sonne in Frage zu stellen. Ob dieser Frage trugen die Anhänger Tallaes schon einige Duelle mit Schwert und Geist gleichermassen aus.
Trotz ihrer theologischen Differenzen ist die Beziehung zwischen den Kulten Tallaes und ihrer Mutter Epsis eng; an Konzilen vertreten sie meist die gleiche Position, und beide Kirchen arbeiten zusammen, um Bedürftigen beizustehen. Braucht die Kirche der Königin Epsis Leibwächter oder Tempelwachen, so wendet sie sich dafür oft an die Kirche Tallaes. Mit anderen Kulten ist die Beziehung weniger gut. Das Verhältnis zwischen den Kirchen Tallaes und des Herrn Morenu hat gewisse Ähnlichkeiten mit jenem zwischen einer Halbwüchsigen und ihrem Vater: Den meisten Tallaeanhängern sind die Priester Morenus etwas peinlich, zumindest die oft ungebildeten Orthodoxen. Die Modernisten geniessen die Unterstützung des Tallaekultes bei ihrem Versuch, den Kanon des Morenu zu vereinheitlichen, allerdings halten die Tallaeanhänger wenig von der Prunksucht vieler Modernisten. Mit dem Kult des Aro verbindet die Tallaeanhänger eine freundliche Rivalität, vertreten die beiden Kulte doch eine ganz unterschiedliche Auffassung, wie man zu Wissen und Weisheit gelangt. Während die Beziehungen zum Kult Ignuls gespannt, aber friedlich sind, steht der Kult Tallaes in offener Feindschaft mit jenem Wutors. Begegnungen zwischen Priestern Wutors und Anhängern Tallaes enden oft in blutigen Zweikämpfen. Dabei haben in den letzten Jahren die Wutorpriester klar mehr Siege errungen, was den stolzen Tallaeanhängern natürlich schwer im Magen liegt.
Die Kirche Tallaes setzt sich seit jeher für die Einheit der Menschenheit ein und unterstützte sowohl Abduramas bei der Gründung der Valerischen Allianz als auch Carvallus bei dessen Umwandlung ins Imperium. Später allerdings kritisierte sie offen die zunehmend tyrannische Herrschaft des ersten Imperators. Beim Krieg im Grenzgürtel verhielt es sich ähnlich: Das Imperium hatte zu Beginn die Unterstützung der Tallaekirche, verlor sie dann aber wegen den grausamen und eigennützigen Taten der Flotte. Dennoch haben die Anhänger Tallaes bis heute im Grenzgürtel einen schlechten Ruf.